Lehrermangel: Das Land müsste Konkurs anmelden. OK-Interview mit Stefan Störmer
Lehrermangel: Das Land müsste Konkurs anmelden. OK-Interview mit Stefan Störmer
Montag, 3. August 2009
Die Sonntagszeitung Ostfriesland-Kompakt hat unseren Kreisvorsitzenden zum Schuljahresanfang interviewt. Der Artikel ist am 2. August erschienen.
Von Christian Geers
Leer – Etliche Bundesländer schaffen das starre dreigliedrige Schulsystem ab. „Es hat sich überlebt“, sagt der Kreisvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im OK-Interview. Weitere Themen des Gesprächs sind die Einrichtung einer Integrativen Gesamtschule in Moormerland und die Zukunft kleinerer Grundschulen auf dem Land.
OK: Herr Störmer, freuen Sie sich auf das neue Schuljahr?
Störmer: Ja klar, mein Beruf macht mir ja Spaß.
OK: Wenn Sie an Ihre Schulzeit denken: Welcher Unterschied fällt Ihnen zuerst auf?
Störmer:Das hängt von der Schulform ab. Am Gymnasium sind die Lerngruppen vor allem in der Sekundarstufe II mit 28 Schülern riesengroß geworden. Zu meiner Zeit gab es Kurse, die mit maximal 15 Schülern besetzt waren. Dazu kommt, dass es heute fünf Prüfungsfächer gibt, damals waren es vier. Außerdem hat sich die Stofffülle erhöht. Die Lehrer erhalten Jahr für Jahr für die Abiturvorbereitung andere Themenlisten, die abgearbeitet werden müssen. Ob die Auswahl, die das Kultusministerium dann vornimmt, immer sinnvoll ist, muss bezweifelt werden.
Für alle Schulformen gilt: Die Arbeit ist mit sehr viel mehr Bürokratie verbunden.
OK: Zurück zum neuen Schuljahr: Worauf freuen Sie sich?
Störmer: Auf die Schüler.
OK: Und worauf nicht?
Störmer Das Land Niedersachsen hat es jahrelang versäumt, rechtzeitig genügend Lehrer einzustellen. Auf diese Weise herrscht an etlichen Schulen auch im Kreis Leer ein Personalmangel, der von den dortigen Kollegen ausgeglichen werden muss. Das erhöht die Arbeitsbelastung vor Ort beträchtlich. Krankheitsfälle sind kaum zu kompensieren. Die Einstellungsrunde für das kommende Schuljahr ist zudem aus meiner Sicht ziemlich chaotisch verlaufen. Das kann sich jemand, der in der Privatwirtschaft tätig ist, gar nicht vorstellen. Das Land müsste eigentlich Konkurs anmelden.
OK: Wie bitte?
Störmer: Wir haben die Situation, dass sehr viele Lehrer jetzt die Ansparphase bei ihren Arbeitszeitkonten ausgleichen und diese Entwicklung massiv in den Markt für Lehrerstunden eingreift. Das hat mit der -mittlerweile wieder zurückgenommenen- Ankündigung der Kultusministerin zu tun, die geleistete Mehrarbeit ans Ende der Berufslaufbahn zu hängen. Viele Kollegen haben sich
gefragt, ob sie dann noch in den Genuss des Ausgleichs kommen würden.
OK: Und wo liegt das Problem?
Störmer: Das Ganze hin und her in dieser Frage hat zur Folge gehabt, dass sämtliche statistische Erhebungen über den Personalbedarf an den Schulen erst im Mai vorlagen. Dann musste der Fächer- und der regionale Bedarf ermittelt werden. Aufgabe der Landesschulbehörde ist es im Anschluss, eine gerechte Verteilung der Lehrkräfte im gesamten Land hinzubekommen. Eine offene Ausschreibung der Stellen hilft uns hier wenig, weil die Mehrheit der Bewerber in die attraktiven Ballungszentren abwandert: Oldenburg, Osnabrück, Hannover, Braunschweig, vielleicht noch Stade.
OK: Und Regionen wie Ostfriesland?
Störmer: Die haben das Nachsehen. In diesen und anderen Landstrichen wird es sehr schwer sein, sie mit Lehrern zu versorgen. Dazu kommt: In den so genannten Mangelfächern – Mathematik, Physik, Latein – gibt es ohnehin zu wenige Lehrkräfte auf dem Markt. Das wird sich auf absehbare Zeit auch nicht ändern. Zudem stehen wir vor großen Pensionierungswellen. Außerdem bieten andere Bundesländer Lehrern attraktivere Bedingungen: bessere Einstiegsgehälter und Aufstiegschancen. Dies führt dazu, dass das Land Niedersachsen mittlerweile in Mangelfächern auf Personen zurückgreifen muss, die kein Lehramtsstudium durchlaufen haben. Damit verbessert man auf keinen Fall die Unterrichtsqualität.
OK: Und die Perspektive?
Störmer: Der Lehrermangel wird wahrscheinlich zu einem Dauerproblem in Ostfriesland werden. Es wird schwer sein, Lehrkräfte für die Mangelfächer zu uns zu bekommen. Wie gesagt, den Mangel an Fachlehrern gibt es schon jetzt. Der wird sich noch verschärfen.
OK: Noch einmal nachgefragt: Wenn in der kommenden Woche die Schule beginnt, dann wird es an den Schulen im Landkreis Leer Lücken im Stundenplan geben, weil Lehrer fehlen?
Störmer: Das steht zu befürchten. Spätestens, wenn die ersten Kollegen krank werden. Im Moment habe ich allerdings noch keine genaue Übersicht. Es wird so sein, dass während des laufenden Schuljahres weiter versucht wird, vakante Stellen zu besetzen.
OK: Würden Sie als Gewerkschaftler heute noch zum Lehrerberuf raten?
Störmer: Man muss diesen Beruf mögen. Wer Lehrer werden möchte, weil er die Vorstellung von einem Halbtagsjob und viel Ferien im Kopf hat, wird nicht glücklich werden. 50 bis 60 Stunden Arbeit pro Woche sind in Hochphasen keine Seltenheit.
OK: Eigenen Angaben zufolge weist die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Niedersachsen und im Bezirk Weser-Ems einen deutlichen Zuwachs von 300 Mitgliedern auf. Woran liegt das?
Störmer: Das lässt sich leicht erklären. In der Vergangenheit ist die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft als reine Interessenvertretung der Lehrkräfte wahrgenommen wurde – wie der Philologenverband oder der VBE. Die GEW vertrat politische Ziele, die sie über die Gremien durchzusetzen versuchte,. Mit der Föderalismusreform hat es eine Veränderung gegeben.
OK: Welche?
Störmer: Die GEW ist Tarifpartner geworden. Das heißt, wir setzen uns auch für die Einkommensverhältnisse unserer Mitglieder ein. Das gilt für die Mitarbeiter in den Kindertagesstätten und anderer Bildungseinrichtungen genauso wie auch für die Lehrkräfte an Schulen. Durch die Organisation von Streiks sind wir in der Öffentlichkeit viel präsenter als vorher. Kurzum: Die Mitglieder wissen jetzt, warum sie den Gewerkschaftsbeitrag entrichten.
OK: Dadurch haben Sie mehr Mitglieder gewonnen?
Störmer: Ja, wenn man sich den bundesweiten Trend anschaut. Speziell in Niedersachsen hängt es sicherlich aber auch mit der Unzufriedenheit mit der hiesigen Schulpolitik zusammen. Insgesamt wird die GEW mittlerweile als vollwertige Gewerkschaft wahrgenommen.
OK: Wenn Sie als GEW-Kreisvorsitzender auf die Landkarte schauen. Gibt es aus Ihrer Sicht Baustellen in der Schullandschaft?
Störmer: Im Landkreis Leer gibt es eine besondere Situation, weil es hier sehr viele kleine Schulen gibt, vorwiegend kleine Grundschulen auf dem Land. Das ist gut, denn sie garantieren ein wohnortnahes Schulangebot. Aber das Problem ist, wie ihr Überleben bei zurückgehenden Schülerzahlen gesichert werden kann. Es ist grundsätzlich nicht wünschenswert, eine Schule zu schließen.
Ein „heißes Eisen“ gibt es auch auf Borkum: Das Kultusministerium hat es abgelehnt, dort eine Gesamtschule zu errichten. Dort sei die gesetzliche Grundlage einer Fünfzügigkeit nicht zu erreichen, lautete die Begründung des Ministeriums, die man sich mal auf der Zunge zergehen lassen muss. Das Land muss aber ja wohl in der Lage sein, auf einer großen Nordseeinsel alle Bildungsgänge anzubieten. Und hier bietet sich eine kleine Gesamtschule geradezu an.
OK: Vor allem die Hauptschule hat seit Abschaffung der Orientierungsstufe unter zurückgehenden Schülerzahlen zu leiden. Ihr droht das Aus. War das nicht abzusehen?
Störmer: Es ist davor gewarnt worden, die Orientierungsstufe einfach abzuschaffen und die Jahrgänge fünf und sechs den weiterführenden Schulen zuzuschlagen und den Elternwillen freizugeben. Dass die Hauptschule dadurch ausdünnt, war vorprogrammiert. Sie wird von den Eltern nicht als attraktive Schulform gesehen.
OK: Warum nicht?
Es wäre angebracht, als flankierende Maßnahme auch die dazugehörigen Stellen für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen zu schaffen., welche die insgesamt gute Arbeit der Lehrkräfte sinnvoll ergänzen. Außerdem fehlt es an Schulpsychologen. Für ganz Ostfriesland gibt es nur zwei.
OK: Niedersachsen setzt auf das dreigliedrige Schulsystem – mit Gymnasium, Realschule und Hauptschule. Ein Modell mit Zukunft?
Störmer: Viele Bundesländer wie Berlin schaffen dieses Schulsystem gerade ab. Dort werden z. B. Haupt- und Realschule zu einer Sekundarschule zusammengefasst. Pisa-Bundessieger Sachsen hat die Dreigliedrigkeit nie eingeführt. Weltweit gibt es ein gegliedertes Schulsystem nur noch in Österreich und mir ist nicht bekannt, dass irgendein Land plant, das deutsche System zu kopieren. Es wird offensichtlich nicht als Erfolgsmodell wahrgenommen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Schülerbewegungen kann man schlussfolgern, dass sich die Dreigliedrigkeit überlebt hat.
OK: Wie durchlässig ist das System eigentlich?
Störmer: Es ist sehr, sehr schwer, innerhalb der Schulen aufzusteigen. Als Gymnasiallehrer habe ich schon lange keinen Realschüler mehr in meinen Kursen gehabt. Das ist ja kein Wunder: Durch die Einführung des Abiturs nach zwölf Jahren ist der Stoff nicht reduziert, sondern auf zwölf Jahre verteilt worden. Die Klasse 10 zählt hier zur Oberstufe. Wechselt ein Realschüler nun auf das Gymnasium, muss er neben einer zweiten Fremdsprache noch jede Menge Stoff nachholen, die Vorstufe hat er ja nicht besucht. Ihm bleibt eigentlich nur der Weg an die BBS. Dort wird das Abitur nach 13 Jahren abgelegt. Will er hingegen an ein Gymnasium, ist dies mit großen Schwierigkeiten verbunden.
OK: Die Besetzung von Schulleiterstellen – gerade in Grund- und Hauptschulen – wird immer schwieriger. Viele Stellen müssen mehrmals ausgeschrieben werden. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Störmer: Als Leiter einer Grundschule bekommen sie ein festes Kontingent an Entlastungsstunden. Dafür ist durch die Schulstrukturreform eine Ansammlung von Verwaltungsarbeiten hinzugekommen, die in dieser Zeit häufig nicht zu schaffen ist. An großen Schulen gibt es in der Regel ein Direktorium, dessen Mitglieder sich die Arbeit aufteilen können. Das Problem an den kleinen Schulen ist: Die Leitungspositionen sind trotz der zusätzlichen Aufgabenübertragung nicht aufgewertet worden. Die pädagogische Arbeit bleibt wegen der Verwaltungsarbeit auf der Strecke. Wichtig ist, dass die Zeitressourcen vorhanden sind. Dann sind auch die Forderungen nach Unterricht auf qualitativ hohem Niveau und Methodenvielfalt zu leisten. Aber zurzeit werden die Arbeitsbelastungen und die Klassengrößen erhöht.
OK: In Moormerland gibt es ab 2010 eine Integrative Gesamtschule. Allerdings ist diese Schule für Schüler, die nicht aus Moormerland und Hesel kommen, nicht unbedingt erreichbar – nur dann, wenn Plätze frei sind. Was sagt die GEW?
Störmer: Das ist eine besondere Situation im Kreis Leer, denn hier gab es bisher kein Gesamtschulangebot. Die Frage, wie man das Angebot kreisgerecht gestaltet, ist schwierig.
OK: Nämlich?
Störmer: Die Alternative wäre gewesen, die Gesamtschule in der Stadt Leer zu errichten. Das hätte dazu geführt, dass die IGS für alle Schüler erreichbar gewesen wäre. Die IGS hätte aber auch dort nur eine bestimmte Aufnahmekapazität. Dann hätte aber die Gefahr bestanden, dass ausgerechnet die Schüler aus denjenigen Gemeinden, die seit Jahrzehnten eine Gesamtschule fordern, schlechte Karten gehabt hätten. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, dass die IGS in Moormerland Schüler aus dem gesamten Landkreis aufnimmt. In diesem Fall würde das Problem entstehen, dass diese Schule die Vergabe der Schulplätze bei hoher Nachfrage per Los vornehmen müsste - mit dem Effekt, dass standortnahe Schüler unter Umständen nicht zum Zuge kommen würden. Also musste der Kreistag den Einzugsbereich schweren Herzens für Moormerland und Hesel festlegen.
OK: Hätte eine zweite IGS eine Chance im Landkreis Leer?
Störmer: Das wäre denkbar, wenn die Nachfrage tatsächlich so hoch ausfällt und sehr viele Schüler aus Platzgründen abgewiesen werden müssten. Der Landrat hat durchblicken lassen, dass man sich in diesem Fall eventuell Gedanken über einen zweiten Standort machen muss.
OK: Apropos, wohnortnahes Schulangebot: Kleinere Grundschulen auch im Kreis Leer stehen wegen zurückgehender Schülerzahlen vor einer ungewissen Zukunft ...
Störmer: Soweit es möglich ist, sollte ein standortnahes Angebot bestehen bleiben. Das ist gerade für Erstklässler wichtig. Bei einer Klassenstärke von drei, vier, fünf Schülern muss aber die Frage erlaubt sein, ob so etwas noch sinnvoll ist. Dann müssten sie auch noch Lehrer für solche Kleinstschulen finden. Das ist ebenfalls nicht einfach.